EVERY BODY HERE
Künstler:
Antoin Sevruguin
17.05.2025 – 15.06.2025
PORTRÄT EINER FRAU
Antoin Sevruguin (1830–1933) war einer der bedeutendsten Fotografen des späten 19. Jahrhunderts im Iran, doch viele Aspekte seines Lebens und Werkes bleiben bis heute rätselhaft.
Sevruguin wurde in der russischen Botschaft in Teheran als Sohn einer russischen Familie mit armenisch-georgischen Wurzeln geboren. Nach dem Tod seines Vaters, eines russischen Diplomaten, verließ er den Iran und lernte im Südkaukasus die Kunstwelt kennen. Nach dem Studium der Malerei und später Fotografie (bei dem georgischen Fotografen Dmitri Ermakov) kehrte Sevruguin in den 1870er Jahren in den Iran zurück und heiratete eine Frau aus der armenisch-iranischen Gemeinschaft. Als offizieller Hoffotograf wurden seine Bilder von Iraner*innen und ausländischen Besucher*innen gesammelt.
Sevruguins Fotografien vermitteln eine einzigartige Vision Irans. Als Mitglied einer christlichen Minderheit gehörte er mit einem gewissen Abstand zur iranischen Gesellschaft. Er orientierte sich an westlichen fotografischen Traditionen – und überschritt sie zugleich. Die Rückseitenstempel der Fotos lauten photographie artistique („künstlerische Fotografie“): Das neue Medium ist keine reine Dokumentation, sondern auch künstlerisches Ausdrucksmittel. Besonders hervorzuheben ist sein innovativer Umgang mit Licht, Schatten und Perspektive. Sevruguin fotografierte die höfische Elite ebenso wie Intellektuelle, Geistliche, Handwerker*innen, Arbeiter*innen, Nomad*innen und ethnische Minderheiten. Mit künstlerischer Sensibilität und dokumentarischer Präzision entstand ein einzigartiges visuelles Archiv der iranischen Gesellschaft an der Schwelle zur Moderne. Viele Glasnegative wurden 1908 durch ein Feuer zerstört, doch das überlieferte Werk aus mehreren hundert Fotografien gilt heute als zentraler Bestandteil des fotografischen Erbes Irans.
Innerhalb des reichen fotografischen Œuvres nimmt die Bildserie von Frauen eine besondere Stellung ein. Diese Aufnahmen zeigen sie meist in Innenräumen, gekleidet in der für das Haus üblichen Kleidung. Zwar existierte im Iran bereits eine Tradition erotischer Frauenmalerei für den öffentlichen Konsum, doch Sevruguin war der erste Fotograf, der Frauen in seinem kommerziellen Studio posieren ließ. Diese Aufnahmen wurden anschließend öffentlich verkauft – an unterschiedlichste Käufer*innen.
Die Frauen auf diesen Fotografien erscheinen nicht in ihrem alltäglichen Umfeld, vielmehr werden sie in einem bewusst inszeniert Setting gezeigt. Die Ästhetik kombiniert europäische und nahöstliche Traditionen des weiblichen Aktes. Die Komposition soll nicht die Lebensumstände der Porträtierten dokumentieren. Die Bilder entsprechen nicht Sevruguins sonstigem dokumentarischen Stil, denn in den Kulissen und romantisierten Posen erscheinen die Frauen zugleich stolz, selbstbewusst und verführerisch. Nackte Füße oder ein freier Bauchnabel konnten im kulturellen Kontext als Hinweise auf sexuelle Verfügbarkeit gelesen werden. Bereits im 17. Jahrhundert wurden solche Darstellungen mit Prostitution assoziiert, und auch Jahrhunderte später blieb diese visuelle Codierung erhalten.
Aus meiner heutigen Perspektive lässt sich dennoch vermuten, dass diese Darstellungen nicht ausschließlich Sevruguins eigener Handschrift entsprangen. Es liegt nahe, dass auch die abgebildeten Frauen ihre Darstellung mitbestimmt haben. Sie scheinen sich der Nachfrage nach bestimmten Bildtypen bewusst gewesen zu sein, wurden wahrscheinlich für ihre Mitwirkung bezahlt und könnten sogar an der Gestaltung der Szene mitgewirkt haben.
Historisch betrachtet sind Fotografien selten rein dokumentarisch, sondern spiegeln oft gesellschaftliche Diskurse wider und prägen sie zugleich. Sevruguins Bilder lassen Raum für Interpretationen und Spekulationen über sein Blickregime. Im Kontext aktueller Debatten über Geschlecht und Identität gewinnen seine Werke eine neue Bedeutung.
IMPRESSIONEN